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Traum am Baum – ein Text zur Schreibanregung vom 15.12

Ein Text von Günter Kranz

Ich spüre deine Rinde in meinem Rücken. Sie ist hart und grob, aber dennoch mag ich es, mich an dich zu lehnen und sie zu berühren. Warum fühlen wir uns in eurer Obhut so wohl?
Ihr liebt uns, weil ihr uns braucht. Während des kurzen Weges, den wir in unserer Geschichte gemeinsam gegangen sind, waren wir euch von vielfachem Nutzen. Und ihr hängt an uns, weil eure Phantasie uns Bäume mit wohlwollenden Attributen bedacht hat.
Wie das?
Ihr weist uns Eigenschaften zu, die ihr begehrt, von denen aber viele von euch nicht mehr wissen, dass sie euch eigen sind.
Welche Eigenschaften wären das?
Standhaftigkeit. Ihr wollt geerdet sein, Bodenhaftung haben. Was hindert euch daran? Ein langes Leben. Ihr erstrebt die Lebensdauer eines Baumes, die ihr für endlos haltet wie eure Liebe, deren Zeugnis ihr in unsere Haut ritzt. Warum lebt ihr es nicht, euer Leben? Beständigkeit. Ihr bewundert die Kraft, die uns ohne eigenes Zutun durch den Wechsel der Jahreszeiten führt. Warum vertraut ihr nicht?
Aber wir sind Menschen! Wir können nicht stehen bleiben und warten, dass es Sommer wird. Wir sind mobile Wesen, Wurzeln wären uns hinderlich. Wir haben es eilig, weil unser Leben kurz ist. Du lachst?
Und doch schlagt ihr Wurzeln! Ihr seid verankert, aber nicht mehr in eurer Vergangenheit, die eure Erde ist. Nein, eure Wurzeln haben neuen Halt gefunden, den sie für sicherer halten. Sie schlingen sich um eure Vorurteile, und sie klammern sich an euren Besitz. Und euer Leben? Es ist nicht kurz, Ihr lebt, wie alle Lebewesen, lange genug.
Das klingt hart.
Ach was. Nimm es nicht persönlich. Ich berichte nur, was ich weiß und was ich sehe. Wir Bäume sehen viel, weil wir alt sind und weit schauen. Wir überblicken Raum und Zeit.
Auch die Zeit?
Auch die Zeit. Jeder von uns speichert die Zeit in seinen Fasern, seit der erste Samen keimte. Wir leben unsere Vergangenheit. Sie ist unsere Substanz, unsere Sicherheit.
Und die Zukunft? In die Zukunft seht auch ihr nicht! Du lachst schon wieder!
Wer seine Vergangenheit kennt, weiß auch um seine Zukunft.
Das verstehe ich nicht.
Nein? Denk nach! Kennst du deine Zukunft? Denk nach, und sei ehrlich. Was ist? Du weinst? Bist du traurig?
Ja. Nein. Du hast recht. Doch, ich sehe meine Zukunft. Ich spüre sie im Pochen meines Blutes. Ich sehe den Strom. Nicht die Rinnsale, Bäche und Flüsse. Aber den Strom, den sehe ich. Und weit hinten das Meer. He, was war das?
Du wirst sentimental. Ich habe mir erlaubt, einen Zweig auf deinen Kopf fallen zu lassen. Es wird Nacht. Du musst gehen, sie warten auf dich.

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Die Axt und der Tannenbaum (10. Türchen)

Warte, warte, jetzt noch nicht! Schau, die Sonne kommt heraus. Wie der frische Schnee glänzt!

Mir ist kalt. Ich will fertig werden.

Sieh doch, sie scheint sogar auf deine blanke Schneide! Wie das blitzt!

Ich seh nichts. Mach jetzt, heb deine unteren Äste. Ich hol aus…

Du bist unerbittlich, oder? Gibt es dir ein gutes Gefühl, junge Bäume zu fällen? Wie geht es dir, wenn einer von uns vor dir im Schnee liegt? Macht dir das Spaß?

Spaß? Mir ist es egal, an wem ich meine Arbeit mache. Ich bin dazu da, Bäume zu fällen. Da ist nichts schlechtes dabei. Bäume wurden schon immer gefällt, so lange es Äxte gibt.

Und es berührt dich nicht, wenn du in einen jungen, frischen, lebendigen Baum schneidest, bis er sich von seiner Wurzel gelöst hat und sterben muss?

Sterben?

Was glaubst du denn? Schlage mich, und mir bleiben vier, fünf Wochen, bis ich mich am Straßenrand wiederfinde. Verdurstet, vertrocknet, tot. Entschuldige, wenn mir die Stimme versagt. Sie werden mich schreddern! Schreddern oder verbrennen.

Das hab ich nicht gewusst. Das mit dem Schreddern, mein ich. Ich seh euch nur jedes Jahr beim Chef im Wohnzimmer stehn, jetzt zu der Zeit, mit so Zeug behangen. Und die Kinder, die um euch rum hopsen.

Kinder? Die Kinder! Wie konnte ich das nur vergessen? Jetzt fällt mir mein Traum wieder ein! Man hat mich geschmückt, und ich trage Lichter, die das Zimmer erleuchten. Ich fühle mich wie eine Königin! Und dann kommen die Kinder. Wie sie stehen und schauen! Sie berühren meine Nadeln, und ich sehe Tränen in den Augen der Großen. Es ist gut. Schau, ich hebe meine unteren Äste, wie du es gesagt hast.

Du meinst…?

Ja. Tut mir leid, dass du frieren musstest. Ich bin bereit.

Günter Kranz

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