Monatsarchiv: September 2016

Leben und Literatur – Lesung von Jalid Sehouli

sehouli

 

Erschienen im be.bra Verlag

 

Am Donnerstag war ich mit einer Freundin zur Lesung von Jalid Sehouli in der Nicolaischen Buchhandlung in Berlin-Friedenau verabredet.  Als wir ankamen, war ich abgehetzt, hatte gerade bei einem Umzug geholfen und wollte am liebsten nach Hause. Aber schon das Ambiente dieser ältesten Buchhandlung Berlins, die mit klaren Rubriken strukturiert und dank der freundlichen Buchhändler so anheimelnd erscheint, zog mich hinein.

Wie merkt man, dass jemand erzählen kann?

Schon bei den ersten Worten von Jalid Sehouli war ich gefangen.  Der Literat mit blauem Schal, der sein Publikum so zugewandt auf einer Holztreppe sitzend in den Blick nahm, verstand es, mit kurzen Sätzen die Bilder im Kopf zu zünden. Wie farbig und geheimnisvoll Tanger erscheint, wie die »weiße Perle Afrikas« noch heute Magnet unzähliger außergewöhnlicher Menschen ist, das verstand ich; ich begriff auch, was für ein enormes Lebensabenteuer die Familie von Jalid Sehouli auf sich nahm, als sie aus politischen Gründen in den 1950er Jahren die Heimat verlassen musste und zufällig in Deutschland landete. Nicht umsonst heißt das Buch: „Von Tanger fahren die Boote nach irgendwo“. Aber es geht nicht vordergründig um gelungene Integration, die Professor Jalid Sehouli als weltweit gefragtem Arzt, führendem Krebsspezialist und Ordinarius der Charité zweifellos gelungen ist.

Vielmehr geht es um die Reise zu sich selbst.

 „Erst wer weggeht, sich bewegt und die beschützende und vertraute Umgebung verlassen hat, weiß doch, wie sein Inneres aussieht. Wer nur drinnen bleibt, bleibt wahrscheinlich nur draußen, wird vielleicht nie erfahren, was es heißt, bei sich zu sein. Dieses Weggehen und Flüchten und sich auf etwas Fremdes zu zubewegen braucht keinen Ort, muss keine körperliche Reise sein, braucht nur einen lebendigen und ehrlichen Spiegel, in dem man über einen kleinen Umweg sich selbst betrachten kann.“

 Den Tod verarbeiten, zu sich selbst finden

Jalid Sehouli erzählt viel von seiner Mutter. Wie sie mit Kohle den Weg zur Schule aufzeichnet, denn sie hat nicht lesen gelernt. Wie sie der Familie den Geschmack der marokkanischen Heimat mit ihren Gerichten bewahrt. Er zeigt uns bei der Lesung die Teekanne, die sie aus Tanger nach Deutschland mitgenommen hat. Er beschreibt, wie er nach dem Tod  der Mutter sie in die alte Heimat begleitet, um sie dort würdevoll zu bestatten. Das Buch, das entsteht, sei sein Freund geworden. Obwohl der Arzt international gefragt ist und  einen extrem ausgebuchten Terminkalender hat, nimmt er sich immer wieder Zeit zum Schreiben. Die schmerzvolle Erfahrung, Abschied nehmen zu müssen, wandelt sich dabei. „Die Reflexion deiner Gefühle und Hoffnungen hilft dir, dich endlich dir selbst zu nähern“. So passt diese Zeile, die im Buch zu der oben zitierten Stelle gehört, auch hier.

Poesie und Lebensfreude

Jalid Sehouli hat sich auf den Weg gemacht an den Sehnsuchtsort Tanger. Entstanden ist ein poetisches Buch, das faszinierend farbig von Heimat und Sehnsucht, aber  auch Liebe und dem Genießen des Augenblicks erzählt. Die 17 marokkanischen Rezepte aus dem Haus Sehouli im Anhang lassen schon beim Lesen Lebensfreude und Lust auf Leben entstehen.

Ich bin froh, dass ich mich auf den Weg gemacht habe zu dieser Lesung. Denn jetzt kann die Reise zu meinen Sehnsuchtsorten beginnen!

2 Kommentare

Eingeordnet unter AKTUELLES

Ich will auf mein Tagebuch weinen dürfen

Franziska Schramm beschreibt hier die „Soll-Freie-Zone“ des Tagebuchs… Tagebücher und Schreibjournale lassen sich so oder so führen. Wie es halt passt. Und wenn sie nicht dazu dienen, das ‚Glück‘ festzuhalten, dann dienen sie bestimmt dazu, dem Leben gelassener gegenüber zu treten. So viele heimliche Freunde, denen wir alles anvertrauen können, haben wir ja nicht. Mir scheint, sie werden immer weniger. Oder?

Hinterlasse einen Kommentar

Eingeordnet unter AKTUELLES