Monatsarchiv: Oktober 2016

Denken wird überschätzt – und Schreiben?

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Niels Birbaumers und Jörg Zittlaus neues Buch „Denken wird überschätzt“ hat mir schon vom Titel her gut gefallen. Ehrlich, haben wir das nicht alle auch schon mal gedacht? Denken wird überschätzt! Besonders bei überintellektuellen Diskussionen oder Texten, die unsere  Welt nicht braucht, weil sie derart überstilisiert sind, dass sie keiner mehr versteht… oder auch in Situationen, wenn es eher mal darum geht, Gefühl zu zeigen, und man wird stattdessen zugetextet. Oder? Andere Beispiele? Wie geht das mit der seelenvollen Leere? Ich hab schon oft alleine ins Meer geschaut oder mich in Gesellschaft meiner Tiere wohler gefühlt als mit Menschen, die ihren Denkapparat nicht abstellen können oder wollen.  Birbaumer schätze ich als unkonventionellen Verhaltensneurobiologen – er beschreibt die Leere, die positiv ist und grenzt sie ab von der Leere, die Angst macht und zu einem Krankheitsbild gehört.

 Musik und Ekstase

Auch Musik kann zu einem gedankenlos-ekstatischen Zustand führen. Die beiden Autoren führen als Beispiel die Playlist von Psyche Loui an, die an der Weslayan Universität in  Connecticut beschäftigt ist. Bach, Adele und Rachmaninov sind hier als Beispiele genannt, die ’skin orgasms‘ produzieren. Ich glaube, bei mir wäre es eher Mahler und argentinischer Tango…? Der Rhythmus der Musik reißt uns mit, aber anscheinend stellt sich der ekstatische Zustand nur ein, wenn das Meer der Theta- und Alphawellen unterbrochen wird von etwas Unerwartetem; das kann allein eine Synkope im Rhythmus bewirken oder ein Wechsel der Tonlage. Beim Schreiben passiert es ja auch, dass man im Flow der Schaffensfreude richtig weggetreten ist; ob das die Leere ist, auf die Birbaumer hinaus will, weiß ich nicht. Jedenfalls fände ich es total spannend, wenn das Hirn von Schreibenden untersucht würde, die ja durchaus auch ekstatische Zustände kennen. Und oft auch gerade dann, wenn das sanft dahin fließende Schreiben plötzlich von einer neuen Idee getränkt wird, der Fluss eine unerwartete Wendung nimmt; ob das dem ekstatischen Erleben beim Musikhören gleich kommt? Bei professionellen Musikern, die ihr Handwerk verstehen, fand Birbaumer während des Musizierens sogar ähnliche Hirnaktivitäten wie bei Meditierenden.

 Schreiben und Ekstase

Ohne zielgerichtetes Handeln sich dem Unbewussten überlassen, dadurch besser wahrnehmen, was emotional wichtig ist – auch das ist ein Kennzeichen von seelenvollem Schreiben, das eher auf den Prozess ausgerichtet ist, als auf das Produkt. Es geht zuerst einmal  um das sich Äußern, nicht, ob aus dem Text ein Buch entsteht. Wenn uns Leere gut tut, dann ist das vielleicht auch eine Erklärung, warum dieses sich Überlassen an das Schreiben uns stärkt und wir – das sehen wir an uns und unseren Klienten- total erholt wieder auftauchen. Wie ein Musiker, der typische Akkorde spielt, mal laut und mal leise seine Musik changiert – so machen wir das beim Schreiben auch, wenn es wie aus unterirdischen Quellen gespeist aus uns herausbricht. Da hat das Schreiben dann wenig mit Denken zu tun, sondern wir schreiben, als ob uns jemand die Hand führt, und erfühlen eher, als dass wir rational planen und in Worte kleiden.  Denken wird überschätzt – Schreiben, so scheint es mir,  wird (noch) unterschätzt.

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