Monatsarchiv: November 2020

Alles ist Welt

Ein Gastbeitrag von  D.H. Ludwig, dessen Beschreibung des „Flows“ und Bezug zu Kafka mich angesprochen hat.

Für Sinnsucher, Schriftsteller, Blogger und Texter.

Dem Glücklichen, sagt man, schlägt keine Stunde. Vielleicht haben Sie es ja schon erlebt: Sie folgen schreibend ihren Gedanken und ringen um die passenden Worte. Kein Radio, keine Mails. Vielleicht haben Sie vergessen, die Heizung anzustellen und nicht einmal gemerkt, dass Sie frieren. In der Kaffeetasse dümpelt einsam ein Rest des heißgeliebten Getränks. Und wo ist eigentlich das Handy? Es ist dieser Zustand, der mit dem Begriff „Flow“, Selbstvergessenheit oder „im Hier und Jetzt sein“ bezeichnet wird. Gedanken, Gefühle, Worte und Sätze fließen. Sie müssen nichts tun – rein gar nichts, außer aufzuschreiben, was Ihnen durch den Kopf geht. Selbsterkenntnis breitet sich aus wie süßer Tau. Nichts liegt Ihnen ferner als darüber nachzudenken, was andere von Ihrem Text halten oder ob Sie damit einst Geld verdienen werden.Wenn Sie regelmäßig schreiben, werden Sie diesen Zustand als eine positive Form von Sucht erleben. Er wird Sie anziehen wie eine verwunschene Insel. Aber das ging schon anderen so.Franz Kafka schrieb seine Erzählung „Das Urteil“ in einer einzigen Nacht nieder und berichtete von rauschhaften Glückszuständen. Er beschrieb eine Vater-Sohn-Beziehung, die für beide tödlich endet. Warum konnte ihn das glücklich machen? Dem Werk liegt ein selbst durchlebter, schmerzhafter Konflikt zugrunde, der Kafkas Leben und Persönlichkeit nachhaltig geprägt hatte. Versuche mit seinem Vater zu reden, waren gescheitert. Der warf ihm Kälte, und Undankbarkeit vor und verurteilte ihn und alles was er tat. Es war ihm nicht zu vermitteln, dass er, der Vater, daran seinen Anteil trug. Kafka schrieb es sich von der Seele. Es ging um nichts weniger als um sein Leben. Er fand psychische Entlastung durch Projektion seines Problems in die Protagonisten und rauschhafte Glückszustände im nächtlichen Flow. Vielleicht ziehen wir dann nach einer Zeit selbstvergessener Beschäftigung die Rollläden hoch und blinzeln in den trüben Morgen. Da ist er, der Tag, und er hat ganz ohne uns angefangen. Wir waren weg – hin und weg könnte man sagen. Alles, was wir heute wirklich tun wollten, ist getan. Jetzt kommen die Nebensachen. Jener Text, den Kafka wie im Rausch niederschrieb, handelte von seinem ganz persönlichen Problem, das er jedoch, wie sich zeigte, mit vielen Menschen seiner Generation teilte. Dem Problem lagen die Konflikte einer patriarchalisch organisierten Gesellschaft zu Grunde. Kafka hat über sich und seinen Vater geschrieben, über sein tief empfundenes, persönliches Leid. Aber es war das Leid seiner Generation und das Leid eines ganzen Jahrhunderts, das er im Kunstschaffen verewigte. Auf dem Wege der Veröffentlichung konnte er sich wieder mit dem Kollektiv verbinden. Achten Sie jeden Ihrer Gedanken, jedes Ihrer Gefühle, denn Ihr scheinbar individueller Flow ist Teil der großen Kette von Ursachen und Wirkungen, die wir als die Welt beschreiben. In jedem Gedanken, jedem Gefühl manifestiert sie sich. Der Dualismus zwischen „Innen“ und „Außen“ ist eine Illusion. In Wahrheit gilt: Alles ist Welt.

Herzlicher Gruß 

D.H. Ludwig, der Sinnsucher von Schreibrausch

„Schreibrausch“

Hinterlasse einen Kommentar

Eingeordnet unter AKTUELLES

2. x Blut und Tinte – heute!

Als Mitglied des Vorstands in der Europäischen Künstlergilde für Medizin und Kultur ist mir/uns eine große Freude, Ihnen die zweite Berliner Veranstaltung der Ringvorlesung Medizin und Literatur „Blut und Tinte“ anzukündigen, die am Mittwoch, den 25.11.2020 von 17.00 – 19.00 Uhr online als Live-Stream über MS-Teams (siehe Link) stattfinden wird.

Zum Thema „Glück“ werden sprechen und miteinander diskutieren:
Prof. Dr. Malek Bajbouj, Glücksforscher, Geschäftsführender Oberarzt und Leiter Bereich Neurowissenschaften; Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie (CBF) der Charité – Universitätsmedizin Berlin
und
Moritz Rinke, Schriftsteller, Dramatiker; Berlin und Worpswede
Die Moderation übernehmen Frau Dr. Adak Pirmorady (Charité/Europäische Künstlergilde Kultur und Medizin) und Dr. Jens H. Stupin (Charité).

Die Ringvorlesung wird im Rahmen der Kooperation des Fachbereichs Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaft der Universität Konstanz mit der Charité – Universitätsmedizin und dem Einstein-Zentrum Chronoi mit Unterstützung der Europäischen Künstlergilde für Medizin und Kultur konzipiert und in Konstanz und Berlin durchgeführt. 

Außerdem steht Ihnen als Einführung in die Vorlesungsreihe ein medizinisch-literarisches Nachgespräch zu den bereits in Konstanz durchgeführten Veranstaltungen als Online-Angebot zur Verfügung (www.  https://streaming.uni-konstanz.de/fr/vorlesungen/sommersemester-2020/lit-65530-202010/).
Näheres zur Veranstaltungsreihe und weitere Termine entnehmen Sie bitte dem Flyer im Anhang.

Mit freundlichen Grüßen für das Team der Ringvorlesung
Prof. Dr. Dr. Jalid Sehouli & Dr. Jens H. Stupin & Dr. Adak Pirmorady

 ————————————–

Im Folgenden finden Sie den Einladungslink zum Livestream der Ringvorlesung Medizin und Literatur. Dieser gilt für sämtliche Termine im Wintersemester 2020/21: 

–          1. Vorlesung: Chronisch sterben und Mitsterben. 28.10.2020, 17-19 Uhr
–          2. Vorlesung: Glück. 25.11.2020, 17-19 Uhr
–          3. Vorlesung: Suizid. 13.01.2021, 17 – 19 Uhr
–          4. Vorlesung: Unzuverlässig? Erzählungen von Arzt und Patient. 10.02.2021, 17 – 21 Uhr

Short URL:

https://bit.ly/3k4r0Mx

Hinterlasse einen Kommentar

Eingeordnet unter AKTUELLES